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EPILEPSIEAngst vor dem Fall

Für Epilepsiekranke sind die psychischen und sozialen Folgen ihrer Krankheit oft schlimmer als die Anfälle selbst. Viele verheimlichen die Diagnose

Wenn es um Minuten ging, saß bei Anna-Katharina G. jeder Handgriff. Zwölf Jahre lang war die junge Frau aus Ulm Rettungsassistentin bei der Bundeswehr, vier Jahre davon Pilotin eines Notfallhubschraubers. Sie rettete verunglückte Fahrer auf der Autobahn, versorgte Verwundete im Kosovo und träumte davon, eines Tages bei den Ärzten ohne Grenzen anzufangen.

Dieser Traum ist seit einem Sommertag im vergangenen Jahr vorbei – dem Tag, an dem Anna-Katharina G. beim Einkaufen in der Ulmer Fußgängerzone plötzlich bewusstlos zusammenbrach und ihr Körper sich auf dem Pflaster unter Krämpfen wand. Was sie zu Boden warf, war ein epileptischer Anfall, der erste von vielen. Heute darf die 34-Jährige sich nicht einmal mehr ans Steuer eines Autos setzen, vom Helikopter ganz zu schweigen.

Ausgelöst werden epileptische Anfälle durch kurze, verstärkte Entladungen von Nervenzellen im Gehirn. Häufig rufen diese Störungen Muskelkrämpfe oder Zuckungen hervor, manchmal Bewusstlosigkeit. Die Symptome sind zahlreich und nicht immer sichtbar (siehe Kasten Seite 40). In Deutschland leiden etwa 600.000 Menschen an Epilepsie, weltweit sind es 50 Millionen.

Anna-Katharina G. möchte ihren vollen Namen nicht nennen. Sie hat Angst, die Leute könnten mit dem Finger auf sie zeigen. Viele Betroffene verbergen ihre Krankheit, so gut es geht. Denn noch immer ist Epilepsie ein Tabu. Nur wenige haben den Mut, offen mit ihrer Krankheit umzugehen und andere aufzuklären. Auf dieses Problem weist auch die Deutsche Epilepsievereinigung beim Tag der Epilepsie am 5. Oktober in Dresden hin. »Jetzt bloß nicht umfallen«, lautet das Motto.

Blinkende Disco-Lichter und Alkohol können einen Anfall auslösen

Wer jederzeit von einem Anfall überrascht werden kann, der hat mehr zu verlieren als nur die Kontrolle über den eigenen Körper. Seit Jahren zeigen Studien, wie schwer die psychischen und sozialen Folgen sind. Wer Epilepsie hat, fühlt sich häufig stigmatisiert und ausgegrenzt, ist seltener verheiratet und überdurchschnittlich oft arbeitslos. Betroffene neigen zu einem geringeren Selbstwertgefühl, leiden häufig an Depression oder Angstzuständen und haben ein erhöhtes Selbstmordrisiko.

Wie ein »Granateneinschlag« hat es die damalige Soldatin erschüttert, als sie den Grund für ihren Zusammenbruch erfuhr. Ein anomales Blutgefäß machten die Ärzte für die Epilepsie verantwortlich. Eine Operation kommt bei ihr nicht infrage, zu groß ist die Gefahr, dass sie gelähmt aus der Narkose erwacht. Das ist deshalb besonders hart, weil Anna-Katharina G. zu jenen 30 bis 40 Prozent aller Patienten gehört, bei denen sich die Anfälle nicht mit Medikamenten ausschalten lassen. 14 verschiedene Mittel hat sie in einem Jahr ausprobiert, dadurch acht Kilo zugenommen. Die Anfälle blieben. »Der Hammer«, wie sie die Krankheit nennt, schlug zeitweilig fast täglich zu. Weil sie sich und andere gefährden können, dürfen Epilepsiekranke wie Anna-Katharina G. nicht Auto fahren. Ausnahmen sind möglich, etwa wenn die Anfälle mindestens ein Jahr ausbleiben und Ärzte ein Risiko ausschließen. Davon ist die 34-Jährige weit entfernt. »Ich hasse es, ständig fragen zu müssen, ob mich jemand irgendwo hinfährt«, sagt sie.

Eine Umfrage unter Epilepsiepatienten in Deutschland und neun weiteren europäischen Ländern ergab 2003, dass jeder Zweite der Befragten stärker auf andere angewiesen ist, als ihm recht ist. Ebenso viele gaben an, auf Dinge verzichten zu müssen, die sie am liebsten täten. Jugendliche Epilepsiepatienten leiden oft darunter, dass sie nicht mit ihren Freunden in die Disco dürfen, wo blinkende Scheinwerfer einen Anfall provozieren könnten. Alkohol gilt ebenfalls als Auslöser. Doch nicht einmal nüchtern empfiehlt es sich, Nächte durchzumachen, da ein ungleichmäßiger Schlafrhythmus Anfälle begünstigen kann. Aus dem gleichen Grund scheuen sich manche Betroffenen davor, im Urlaub in andere Zeitzonen zu fliegen.

Ausgerechnet beim Schwimmen muss Anna-Katharina G. nun aufpassen, darf nur noch in Begleitung ins Wasser. Dabei war die junge Frau früher eine Könnerin, erreichte Spitzenzeiten in der Rücken- und der Delfinlage. Sogar bei den deutschen Meisterschaften ist sie vor einigen Jahren angetreten. Heute könnte sie ertrinken, wenn man sie im Notfall nicht rechtzeitig aus dem Becken zöge.

In manchen Fällen ist die Vorsicht aber auch übertrieben. Vor allem Eltern neigen dazu, ihre epilepsiekranken Kinder zu sehr zu behüten und gleichsam in Watte zu packen. »Für Eltern ist die Diagnose eine Katastrophe«, sagt Susanne Fey, Vorsitzende des Epilepsie Bundes-Elternverbands. Viele hätten Schuldgefühle und große Angst vor den Folgen der Anfälle. Dennoch sei eine größtmögliche Freiheit für die Entwicklung der Kinder wichtig. Das Leben dürfe sich nicht nur um die Krankheit drehen.

Obwohl sich Anna-Katharina G. ihr Leben so wenig wie möglich von den neuen Launen ihres Körpers diktieren lassen will, fühlt sie sich manchmal unsicher. Während sich Anfälle bei anderen durch Warnsignale, sogenannte Auren, ankündigen, fällt sie einfach um, »wie ein Stock«, sagt sie. Einmal brach dabei ihr rechtes Sprunggelenk, ein anderes Mal ein Finger. Auch im Zug ist sie schon mal hingeschlagen, auf dem Weg zum Speisewagen. Fast eine Stunde lang war sie danach bewusstlos.

»Diese Anfälle verändern Menschen«, sagt Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor am Epilepsiezentrum Kork und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie. Die Unberechenbarkeit der Aussetzer wirke traumatisierend. Depressionen, Angststörungen oder Psychosen sind unter Betroffenen keine Seltenheit. Selbst wer jahrelang anfallsfrei sei, werde die Unsicherheit oft nicht mehr los.

Schlimmer als die Angst vor dem nächsten Sturz und schmerzhafter als ihre Knochenbrüche sind die Erfahrungen, die Anna-Katharina G. mit der Umwelt gemacht hat. Welch krassen Vorbehalten Epilepsiekranke ausgesetzt sein können, wenn sie in der Öffentlichkeit einen Anfall haben, erfuhr sie, als sie auf dem Pflaster der Ulmer Fußgängerzone wieder zu sich kam. Auf sie herab blickten verständnislose Gesichter von Passanten, die stehen geblieben waren, um zu gaffen, nicht um zu helfen . Ihr Kopf dröhnte, alle Muskeln schmerzten. Sie wollte um Hilfe bitten, konnte aber nicht sprechen. Statt sinnvoller Sätze brachte sie nur Gestammel heraus. Die Sprachstörung, ein Symptom bei bestimmten Anfällen, werteten die Umstehenden als ein Zeichen schwerer Trunkenheit und hielten es für angebracht, die junge Frau als Alkoholikerin und »Schandbild« zu beschimpfen.

»Diese Erfahrung ist typisch«, sagt Ann Jacoby, Medizinsoziologin der University of Liverpool. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit der Stigmatisierung von Epilepsiekranken und weiß: »Die Krankheit wird vollkommen missverstanden.« Noch immer gebe es in vielen Gesellschaften ein großes Maß an Ignoranz. Das bestätigte auch eine bundesweite Emnid-Umfrage im Jahr 1996: 14 Prozent der Befragten hatten noch nie etwas von Epilepsie gehört, jeder Fünfte hielt sie für eine Geisteskrankheit. Ebenso viele wollten nicht, dass ihre eigenen Kinder einen Epilepsiekranken heirateten. Außer Ignoranz ist es oft Hilflosigkeit, die Beobachter passiv herumstehen und gaffen lässt. »Viele sind geschockt und wissen nicht, was sie tun sollen«, sagt Jacoby. Vor allem große, sogenannte Grand-Mal-Anfälle wirken gefährlich. Oft schreien Betroffene, bevor sie bewusstlos hinfallen, sie krampfen heftig, auf ihren Lippen schäumt Speichel. Manchen versagt die Blase.

»Wenn Leute, die einen Anfall erleben, negativ reagieren, dann spricht aus ihnen oft die Furcht, dass ihnen so etwas auch passieren könnte«, sagt Jacoby. Einige Wissenschaftler erklären abweisende Reaktionen auch damit, dass die Unberechenbarkeit der Anfälle einen Angriff auf soziale Normen darstellt. »Gesellschaften funktionieren nach impliziten Regeln, die jeder versteht«, sagt Jacoby. Selbstkontrolle sei eine davon. »Wer einen Anfall hat, verstößt in gewisser Hinsicht gegen eine Verhaltensregel«, erklärt sie.

Es ist auch auf die oft erschreckenden Symptome zurückzuführen, dass Epilepsie in der Vergangenheit als Ausdruck von Sünde und dämonischer Besessenheit galt. In einigen Entwicklungsländern hat sich dieses Vorurteil bis heute gehalten, ebenso wie das der Ansteckungsgefahr. Obwohl Epilepsie bei den alten Griechen als »heilige Krankheit« galt und Persönlichkeiten wie Sokrates, Julius Cäsar und Vincent van Gogh Anfälle erlitten haben sollen, kennt die Geschichte grausame Diskriminierungen. Im Mittelalter wurden Betroffene als Hexen verfolgt, im »Dritten Reich« fielen sie der Euthanasie zum Opfer.

Auch wenn solche Gräueltaten Schrecken der Vergangenheit sind, fürchten viele Betroffene noch immer, stigmatisiert zu werden, und halten ihr Anderssein im Verborgenen. Im Juli stellte das International Bureau for Epilepsy (IBE) auf einem Kongress in Singapur die Ergebnisse der weltweit größten Umfrage unter epilepsiekranken Kindern und Jugendlichen und deren Eltern vor. Fast ein Viertel der Eltern gab an, die Krankheit ihres Kindes geheim zu halten, meist aus Sorge, es könnte sonst anders behandelt werden. Unter den jungen Patienten hatte sich jeder Dritte für das Schweigen entschieden.

Wie schwer es ist, als Jugendlicher Freunde zu finden, wenn man anders ist, weiß Dani gut. Die 23-Jährige leidet seit zwölf Jahren unter Epilepsie. Auf der Realschule musste sie zwei- bis dreimal in der Woche den Klassenraum verlassen, weil ihr schwindelig war, ihr linker Arm zu zittern anfing und manchmal wie von Geisterhand in die Höhe gerissen wurde. Mit solch sonderbaren Vorfällen waren keine Freunde zu gewinnen, schon gar nicht in der Pubertät, in der schon eine falsche Turnschuhmarke in die Isolation führen kann. »Keiner wusste, wie er damit umgehen sollte, also haben mich alle ignoriert. Ich hatte niemanden«, erzählt Dani.

Epilepsiekranke sind nicht automatisch leistungsschwach

Auch die Lehrer waren überfordert. Manche gerieten in Panik, etwa eine Sportlehrerin, die bei einem von Danis Anfällen vor Ratlosigkeit in der Turnhalle unentwegt im Kreis lief. Eine andere Lehrerin hatte gar die Idee, das Mädchen auf eine Sonderschule zu schicken. Dabei sind epilepsiekranke Schüler nicht automatisch leistungsschwach. Eher sind es die Medikamente, die die Aufmerksamkeit trüben und den Gedankenfluss lähmen. »Wie benebelt« habe Dani wegen der Antiepileptika manche Unterrichtsstunde verfolgt. Ein Fall für die Sonderschule war sie deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil – sie wechselte auf ein Gymnasium und machte ihr Abitur.

Schwierigkeiten gibt es häufig auch auf dem Arbeitsmarkt. Eine Studie aus dem Jahr 2000 zeigt, dass Epilepsiekranke in Deutschland überdurchschnittlich häufig arbeitslos sind. Nur 45 Prozent der Studienteilnehmer waren erwerbstätig im Vergleich zu 68 Prozent bei der Gesamtbevölkerung. Wissenschaftler der Universität Marburg haben kürzlich errechnet, dass die Frühberentung der größte Faktor unter den indirekten Kosten der Epilepsie ist.

Dass Epilepsiekranke es oft schwer haben, eine Stelle zu finden, hat viele Gründe. Die eingeschränkte Mobilität und das Unfallrisiko auf einem Baugerüst oder am Steuer eines Lastwagens gehören dazu. Doch viele Bewerbungen scheitern schlicht an den Vorbehalten der Arbeitgeber. Nachdem Anna-Katharina G. die Bundeswehr verlassen musste, bemühte sie sich lange vergeblich um Klinikposten und Bürojobs. Nicht einmal im Supermarkt wollte man sie Regale einräumen lassen. Mit dieser Krankheit, so die Begründung, komme sie nicht infrage. Dani hörte bei einem Bewerbungsgespräch für eine Lehrstelle sogar den Satz: »Sie kann man ja nicht auf die Leute loslassen.« Und das, obwohl das Zucken bei ihr seit Jahren nur noch nachts auftritt.

Das Verletzungsrisiko bei der Arbeit liegt unter einem Prozent pro Jahr

»Oft fürchten Arbeitgeber ein erhöhtes Unfallrisiko und Haftungsansprüche«, sagt Rupprecht Thorbecke, der die Sozialtherapeutischen Dienste im Epilepsiezentrum Bethel leitet und Anfallskranken dabei hilft, sich beruflich zu orientieren. Verschiedenen Studien zufolge liegt das anfallsbedingte Verletzungsrisiko am Arbeitsplatz jedoch nur bei null bis ein Prozent pro Jahr. Auch das Vorurteil, Epilepsiekranke hätten höhere Fehlzeiten als andere Beschäftigte, ist in Studien widerlegt worden.

Betroffene müssen ihre Krankheit nicht einmal angeben, wenn der Arbeitsplatz keine besonderen, mit der Epilepsie verbundenen Risiken beinhaltet. »Das können viele bei einer neuen Stelle vorher aber nicht einschätzen«, sagt Thorbecke. Auch für Arbeitgeber ist es nicht leicht zu beurteilen, welche Aufgaben unbedenklich sind. Zwar geben die Berufsgenossenschaften ein Heft mit entsprechenden Empfehlungen heraus. Dennoch hält Thorbecke das Wissen deutscher Chefs für unzureichend. Umso wichtiger sei es, dass die Betroffenen selbst gut über ihre Krankheit Bescheid wüssten und Vorbehalte entkräften könnten.

Wie sich Vorurteile anderer abbauen lassen, lernen Epilepsiekranke beispielsweise in dem Schulungsprogramm Moses, das der Verein zur Förderung von Epilepsie-Schulungen bundesweit anbietet. Für Jugendliche gibt es sogar einen Comic im Manga-Stil mit dem Titel Epilepsie? – Bleib cool!. Darin lesen sie, wie sie mit der Diagnose leben und ihre Freunde aufklären können. Der Weg aus der Verborgenheit braucht Mut, ist aber sehr wichtig, betont Ann Jacoby. »Wenn man sich ewig versteckt, ändert sich ja nichts«, sagt die Medizinsoziologin.

Etwas verändern wollen Anna-Katharina G. und Dani. Gemeinsam mit Susanne Rudolph, die den Ulmer Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene mit Epilepsie gegründet hat, haben sie ein kleines Buch veröffentlicht. Ein beinahe fast normales Leben heißt das Heft, das aus ihrem Alltag erzählt. Es ist der zaghafte Versuch 14 junger Menschen, das Schweigen zu brechen und Denkanstöße zu geben. »Wir wollen die Krankheit der Gesellschaft näherbringen, schließlich kann sie jeden treffen«, sagt Rudolph. Seit April hat sie fast 5.000 Exemplare verschickt. Schon nach kurzer Zeit war die erste Auflage vergriffen. Das zeigt, wie wichtig es war, ein solches Heft zu schreiben, nicht bloß für Betroffene, sondern um mit Vorurteilen Schluss zu machen.

Wie es beruflich für sie weitergeht, hat Anna-Katharina G. unterdessen herausgefunden. Auch wenn sie nie wieder einen Hubschrauber fliegen wird, kann sie weiterhin anderen Menschen helfen. Trotz Epilepsie hat sie eine Zusage vom Auswärtigen Amt bekommen, wo sie bald als Projektleiterin für medizinische Entwicklungshilfe anfangen wird. Aufgegeben hat die 34-Jährige sich nicht. »Ich will noch was erreichen«, sagt sie.

 
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